73 Kilometer nennen wir eine „Short Stage“. Oft ist die erste Pause einer Tagesetappe nach über 60 km. Die heutige kurze Etappe erforderte einige Pausen, denn der Gegenwind war böse. Mental Rückenwind gaben uns die Aussagen zweier Australischer Kanada-Querer. Sie waren sechs Tage nach uns in Hope. Dort wurde ihnen von drei Typen auf Tretrollern berichtet. Immer wieder hörten sie von uns und nun begegneten wir einander. Wir machen mächtig Eindruck hierzulande. Man kann sagen, wir sind legendär…
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Im Wohnwagen
Die Nacht war zweimal unterbrochen von Krämpfen in den Beinen, wohl Magnesiummangel. Ich kenne das nur von den Waden. Jetzt hatte ich es überall und vor allem in den Oberschenkeln. Das ist echt zum laut Aufschreien. Ich hielt mich zurück. Davon abgesehen war die Nacht im Wohnwagen echt angenehm. Nun gut, ich hatte den Luxus eines Doppelbetts mit Bettzeug, während meine Weggefährten auf schmalen Notbetten im Schlafsack mützen mussten.
Abfahrt 8:30, also Schlafen bis 7:30. Ich stellte mir den Wecker auf 7:15, um in jedem Fall pünktlich fertig zu sein. Den Wecker brauchte ich nicht. Den braucht niemand. Wir sind alle auf Frühaufstehen getrimmt. So blieb ich bis 7:15 im Bett und ging mich dann im engen Bad-Waschraum-WC rasieren. Welche Abenteuer! In diesem Raum funktioniert das Licht nicht. Das lukenartig kleine Fenster ist zwischen Waschmuschel und Spiegel platziert. So nahm ich meine Stirnlampe mit der ich mir über den Spiegel aufs Kinn leuchtete. Und die Lesebrille brauchte ich sowieso. Hilfe, am Häusl steht ein komischer Mann, möglicherweise ein Außerirdischer.
Es klappte gut, auch das Waschen, Nägel schneiden und Zähneputzen. Interessanter Weise war in diesem Wohnwagen alles gleich wie immer am Morgen und jeder nahm für sich das Frühstück in seinem Bett ein, schweigend, den anderen keine Beachtung schenkend. Wir hätten nur Frederics Bett hochklappen müssen und da wäre ein Tisch mit vier Sitzmöglichkeiten gewesen. Komisch! Ja, komisch ist, dass mir das schweigende Frühstücken gefällt. Den anderen wohl auch.
Das Ankleiden, Einpacken, Roller Bepacken ging dann für meine Verhältnisse schnell und wir alle waren vor 8:30 startklar, diesmal mehr ausgeschlafen als sonst, jedoch insgesamt müde. Die beiden Schweizer mit ihren eBikes waren wohl schon um 8:00 gefahren und zwar zu einer Frühstücksmöglichkeit 7 km in Fahrtrichtung entfernt. Vielleicht würden wir hinzustoßen und einen schnellen Kaffee trinken.
Frühe Frühstückspause
Nach 7 km gab es einen Campingplatz, möglicherweise war da versteckt auch etwas, das man hier großkotzig „Restaurant“ nennt. Fahrräder sahen wir keine stehen. Wir fuhren weiter, nein, wir quälten uns weiter, denn es gab Gegenwind. Einmal war Josef stehengeblieben und Frederic und ich warteten etwas länger auf ihn. Eine Panne würde er schon nicht haben, eher würde er sich umziehen, denn für lang-lang war es nun schon etwas warm. Eine Meile entfernt, so verriet uns eine Werbetafel, sei ein Truck Stop.
So fuhren wir zu diesem Truck Stop. Das war dann eine dieser typischen Buden mit einem leuchtenden „OPEN“ im Fenster und dünnem Filterkaffee im Nachschenkverfahren. Hier würden wir auf Josef warten und so etwas wie ein Zweitfrühstück einnehmen. Wie immer großes Interesse an unseren Rollern. Josef kam noch vor dem Bestellen. Sein GPS machte Probleme.
In der Ecke stand ein Piano und es gab haufenweise Noten dazu. Ich holte meine Lesebrille vom Roller draußen, setzte mich hin und spielte zuerst ein Präludium von Bach und dann Beethovens Albumblatt. Meinen Freunden gefiel es, doch drängten sie zum Weiterfahren. Wir hatten noch keine 15 km und die Zeit lief nur so dahin. Steigungen und Gegenwind lagen vor uns. So setzte ich mich zu ihnen und trank vom Kaffee, nahm mir noch einen Muffin dazu. Sicherheitshalber stattete ich der Toilette auch noch einen Besuch ab. Dann zahlten wir und es ging wirklich los. Draußen sah ich dann wieder einen dieser Eisbehälter. Hier verkauft man gefrorenes Wasser. Ist das so wie früher bei uns als es keine Gefrierschränke gab? Oder zerhackt man hier gerne selbst das Eis für Getränke wie Sharon Stone es Basic Instinct zu tun pflegte? Außerdem sah ich, dass man auch hier Feuerwerk verkaufe.
Da musste ich eigens bei Josef nachfragen. Die ganze Zeit dachte ich nämlich, „Fireworks“ könnte eine Umschreibung für Rauchwaren sein, da man ja nirgendwo Zigaretten bekommt oder rauchen dürfe. Mit dem Alkohol verhält es sich ja nicht anders. Nein, nein, es ist schon so. Es handle sich um Feuerwerksraketen. Eigenartiges Volk. Raketen gibt es dreimal häufiger als Äpfel oder Bananen. Auch in diesem Truck Stop gab es nur Muffins unter dem Begriff „Food“ zu finden.
Weiter nach Sault Sta. Marie
Jetzt aber Gas geben. Wir wollten recht früh das Motel belagern, um den Tag in Sault Sta. Marie zu verbringen, womit auch immer. Etwas über 70 km sollten es insgesamt sein, eine „Short Stage“ oder sogar eine „Half Stage“, verglichen mit anderen Tagen also eigentlich ein Klacks. Im Kopf hatte ich, dass wir die nächste Pause so bei km-Stand 45 oder 50 einlegen würden. Welch Überraschung. Bei km 35 war es Josef, der zu einer Raststation mit Bewirtung abbog. Einverstanden, sehr einverstanden. Die Etappe heute war nicht einfach und sie würde uns weit länger und intensiver in Anspruch nehmen als gedacht.
Zweite Kaffeepause
Für Frederic und mich gab es wieder Kaffee. Ich nahm mir noch einen Cheeseburger. Josef indessen aß nur Selbstmitgebrachtes. Beim langen Warten auf meinen Burger nahm ich mir auch Essen aus meinem wasserdichten Beutel. Ein Salamibrot und zwei 100g Becher Vanillepudding. Diese Pause dauerte also auch länger als geplant und so sank der tatsächliche Schnitt auf unter 10 km/h. Ein Alptraum eigentlich, jetzt wo die Sonne auch noch so richtig runterbrannte.
Nach einer Bergab-Passage war dann Josef wieder vorne. Sein Roller hat einfach die bessere Aerodynamik. Das macht sich dann immer bezahlt. Mir war es nicht möglich, mit moderatem Kraftaufwand ihm nachzukommen. Ich fahre immer nach Pulsmesser und da wollte ich 110 nicht überschreiten. Ein klein wenig schmerzt mich manchmal mein rechtes Fußgelenk. Da wäre ein stärkeres Andrücken schlecht. Wir sind in keinem Rennen, wir sind auf einer Reise. Frederic war hinter mir und wollte auch nicht schneller sein.
Wir sind entlang der Route eine Berühmtheit!
Gerade als wir Josef auch aus der Sicht verloren hatten, überholten uns zwei Radfahrer mit Packtaschen. Einer fuhr mit nacktem Oberkörper. Offensichtlich auch Kanada-Querer. Sie sprachen uns an und wir vier blieben stehen. Aus Quebec kommen sie und sie wohnen auch dort, weshalb die Unterhaltung nun bilingual weiterging. Toll, wie sie gleichermaßen flüssig Englisch und Französisch reden können. Sie starteten sechs Tage nach uns ebenfalls in Vancouver. Was sie zu sagen hatten war jetzt aber vom Allerfeinsten!
Am zweiten Tag in Hope wurde ihnen berichtet, es seien drei Typen unterwegs mit so Fahrrädern mit einem „Board“ drauf und die Typen laufen damit irgendwie. Wir waren in Hope also noch nach einer Woche sehr bildhaft in starker Erinnerung. Am weiteren Weg hörten sie immer wieder von diesen drei Typen. Wahnsinn! Wir sind also lebende Legenden. Die zwei Sunnyboys waren echt froh, uns jetzt aufgefunden zu haben. All die Geschichten waren wir die vom Yeti, dem Ungeheuer von Loch Ness oder eben hier von den Bären.
Begegnung mit drei Schwarzbären
Apropos! Während unseres Straßenrandgesprächs querte doch glatt eine Schwarzbärmama mit ihren zwei jungen, aber nicht mehr ganz kleinen Bären die Straße hinter uns. Jetzt endlich sah auch Frederic Bären. Josef bekam auf dieser Reise noch immer keinen zu Gesicht. Für mich war es schon die zweite Begegnung. Wieder konnte ich kein Foto machen. Es ging viel zu schnell. In Erinnerung bleibt mir, dass Schwarzbären verdammt schöne und elegante Tiere sind und beidemale waren sie nur bestrebt, schnell die Straßenseite zu wechseln. Das Risiko will ich nicht kleinreden, aber es wird wohl ziemlich unwahrscheinlich sein, jetzt echt Probleme mit einem Bären zu bekommen. Unsere Sprays haben wir dennoch griffbereit nahe dem Lenker befestigt.
Nochmals die zwei Radler aus Quebec
Die zwei Burschen fuhren nun zu Josef vor, um ein bisschen mit ihm zu plaudern. Frederic und ich versuchten zunächst in deren Windschatten mitzufahren. Wir scheiterten, denn sie hatten Rennräder und viel weniger Gepäck als wir. Bald stießen wir hinzu zu der plaudernden Gruppe aus Josef und den beiden Quebec’schen Pedalierern. Jeder von ihnen machte eine kleine Probefahrt und sprach uns den allergrößten Respekt zu. Dann waren sie endgültig weg.
Nett war das. Irgendwie ist es kein großer Zufall, dass sie immer wieder von uns hören, schließlich gibt es nicht so viele Möglichkeiten auf ortsfeste Personen zu treffen. Alle zig Kilometer kommt einmal eine Tankstelle oder ein kleiner Shop. Crossing-Canada-Typen genießen hier ein sehr gutes Ansehen und man wird auch als Radfahrer immer gegrüßt und angequatscht. Da ist es nur normal, dass Leute mit den Burschen aus Quebec reden und dann von den ganz Irren auf ihren Tretrollern erzählen.
Beschwerliches Finale
Hier in Kanada zähle ich nicht so oft die Kilometer runter. Heute aber tat ich es. Es war einfach zu beschwerlich und das Ziel, nämlich die 80.000 Einwohner große Stadt Sault Sta. Marie schon so nahe. Der Gegenwind und die immer wieder überraschend auftauchenden Steigungen machten mich fertig, vor allem, da meine Windangriffsfläche größer war als die der Kameraden und ich das Gefül hatte, nach jedem Kick windgebremst wieder stehen zu bleiben. Die Landschaft genoss ich schon längst nicht mehr. Den Lake Superior hatten wir hinter uns und die ewigen Wälder faszinieren auch nicht mehr. Die Sonne brannte auf der Haut. Nie dachte ich heute, ich würde meine beiden Flaschen austrinken. Doch ich tat es.
Wie sich zu meiner Überraschung herausstellte, litten wir alle drei gleich groß. Diesen Tag empfanden wir als besonders hart. In Sault Sta. Marie ging es dann glücklicherweise nur bergab. Die Einfahrtsstraße aus dem Norden erinnerte mich stark an die Brünnerstraße in Wien. Autohändler und diverse Großmärkte ohne Ende. Hier allerdings gab es dazwischen auch zahlreiche Motels und verschiedenste Fast Food Läden. Ein Stehenbleiben und Einchecken kam nicht in Frage. Zu fern waren wir noch der Downtown. Aus Preisgründen wollten wir eh etwas außerhalb bleiben. Im Gebäudeschatten eines Subway-Lokals nützten wir das örtliche WLAN und fanden ein günstiges Motel, 3,5km richtung Zentrum.
Diesen Weg schafften wir gerade noch. Zimmer gab es, Zweibett- und Dreibett zum selben Preis, nämlich 99 Dollar und einfach so, weil wir Sportler waren oder neongelb, gab uns die Lady dort das Dreibettzimmer um 75 Dollar. Zwei Nächte würden wir hier verbringen. Wir ließen uns gerne hier nieder. Roller absatteln und alles Zeugs auf das eigene Bett schmeißen, trinken, essen, Schuhe ausziehen und natürlich wieder online Sein, schweigend nebeneinander. Schön ist das. Klimaanlage an und ein wenig Mensch sein.
Entspannen im Motel
Wir hatten keinen Plan für heute und für morgen auch nicht. Mir war nur das Schreiben meines Blogs ein Anliegen und irgend etwas müsste ich mir auch zu Essen kaufen. Heute gingen wir getrennte Wege. Jeder ging irgendwann Einkaufen. Ich machte den Anfang, fuhr einen Kilometer zurück, also leicht bergauf, um in einer Shopping Mall den Supermarkt aufzusuchen. Wie Pinocchio im Spielzeugland fühlte ich mich hier. Zuvor waren wir essenstechnisch in der Wüste und jetzt gab es alles und das gleich zehnfach. So ein Angebot hatte ich selten gesehen. Voll der Gier füllte ich meinen Einkaufskorb. Nektarinen, Äpfel, Brot, Schinken, Mango-Karotten-Saft, Tüteneis, gefrorene Lasagne, Kekse, Nüsse, getrocknete Cranberries und noch so manches mehr. Gerne hätte ich noch mehr gekauft, gleich für die nächsten Tage. Leider habe ich keinen Platz mehr in meinen Taschen und Wurst beispielsweise hat es nicht so gerne ein paar Tage in der Hitze der Sonne. Mit fünf Plastiksäcken am Lenker rollte ich behutsam und langsam zurück ins Motel.
Josef war schon weggegangen, Frederic ging nun einkaufen. Ich aß ein wenig und beschäftigte mich gerne mit Facebook. Als Josef zurück war ging ich nun duschen. Das war im wesentlichen der Tag. Im Fernsehen nebenher liefen die Olympischen Spiele. Jeder war in seinem Bett und gedanklich mehr auf Facebook als in Rio. Gegen zehn war dann Bettruhe. Aaah! Übrigens, der Ort liegt scharf an der Grenze zu den USA. Josef muss aufpassen das Land nicht zu verlassen, sonst kann er unter Umständen nicht mehr einreisen.
Wieder ein wunderbarer Bericht … „Fireworks“ or „Firewood“ … hast Du es schon einmal mit Rucksack versucht (bessere Gewichtsverteilung, weniger Stirnfläche) … jetzt habt ihr „nur mehr“ ca. 670 km nach Toronto … ach ja, ihr habt gleich viele Streckenabschnitte wie die e-biker!
Viel Spaß und
Power to You!
Mit Rucksack ist es leider doppelt schlimm. Man macht mit jedem Kick Hubbewegungen mit einem Mehrgewicht. Außerdem schwitzt man damit weit mehr. Ich kann es aber einmal auf längerer Strecke probieren. Meine Überlegungen sind ganz andere. Die kommen bei meinen abschließenden Betrachtungen im Flieger nach Paris oder auch erst in Wien. Morgen startet eine Zweitagesetappe nach Sudbury und von dort eine Dreitagesetappe nach Toronto. Angeblich ist es nach Toronto ärger am Highway. Mehr Spuren und so. Naja, die eBiker sind dann schon am Ziel…
Sehr schöner Bericht, Guido.
Nur das mit den Feuerwerkskörpern kann wohl nicht stimmen, zumindest wenn von dem Schild auf Foto 3 die Rede ist. Dort steht nicht „fireworks“, sondern „firewood“ und das bedeutet Brennholz. Brennholz braucht in Canada wohl jeder, aber wer braucht schon Feuerwerkskörper?
Übrigens, das mittlere Wort in ‚Sault Sainte Marie‘ wird ‚Ste.“ abgekürzt. Ich sag’s nur, damit es bei Deinem künftigen Buch keine Leser-Reklamationen deswegen gibt.
Weiterhin gute Fahrt!
LG Horst
Ja, da hatte ich nicht genau gelesen. Das mit Fireworks stimmt aber. Ich werde bei Gelegenheit ein passendes Foto nachreichen. Beinahe hätte ich heute eines geschossen, ohne Deinen Kommentar gelesen zu haben. Da standen riesige Raketen im Food Shop.