582,5 Kilometer in unter 31 Stunden. Das ist das erklärte Ziel, wenn es am 30. Juni 2018 am Tretroller von Wien nach Berlin geht. Auf den Tag genau vor 125 Jahren fuhr der Münchner Josef Fischer diese Strecke in 31 Stunden und 22,4 Sekunden mit dem Fahrrad. Das damalige Distanzrennen löste einen wahren Fahrradboom aus. Wer weiß, vielleicht löst das Projekt „kickdistance2018“ einen Tretrollerboom aus…

Distanzradfahrt 1893 und Distanzritt

unterwegs 1893

unterwegs 1893

Vor exakt 125 Jahren fand die legendäre Distanzradfahrt von Wien nach Berlin statt. Vom 29. auf den 30 Juni 1893 traten 117 Radfahrer gegeneinander an, um schnellstmöglich von Wien nach Berlin zu fahren. Das Rennen an sich war ein Großereignis und die positiven Folgen für den Stellenwert des Fahrrads waren kaum abzusehen. Vor dem Start am Samstag, dem 29. Juni 1893 gab es vier Tage lang in Wien die unterschiedlichsten Veranstaltungen im Zusammenhang mit Fahrrädern, darunter ein Korso über die Wiener Ringstraße mit hunderten geschmückten und beleuchteten Fahrrädern.

Zu jener Zeit galt Radfahren als exaltiertes Hobby Wohlhabender. Die Fahrräder verfügten über zwei gleich große Laufräder und einen Kettentrieb von den Pedalen zum Hinterrad. Ein Jahr zuvor, also 1892, fand der Distanzritt von Wien nach Berlin statt. 250 Kavallerie-Offiziere stellten sich der Herausforderung, ohne Pferdewechsel die Strecke schnellstmöglich zurückzulegen. Für die 572 km benötigte der Sieger 71 Stunden und 26 Minuten. Die damaligen Diskussionen, ob ein Reiter am Pferd oder ein Radfahrer am Fahrrad schneller sei, führte schließlich zur Distanzradfahrt Wien-Berlin. Dahinter standen durchaus militärische Interessen.

Josef Fischer (Sieger 1893)

Josef Fischer (Sieger 1893)

Um 6 Uhr morgens starteten 117 Radfahrer in Wien Floridsdorf, bejubelt von 8.000 Zuschauern. Die Fahrer waren ausgestattet mit Landkarten, Routenbeschreibungen und Papieren für den Grenzübertritt. Auf der Strecke waren 300 Kontrollposten besetzt. Per Telegramm wurde die Durchfahrt der Teilnehmer gemeldet, für die Zeitnahme wurden zwei Chronometer eingesetzt, von denen einer per Schnellzug nach Berlin gebracht wurde.

Nach 31 Stunden und 22,4 Sekunden kam der Sieger in Berlin-Tempelhof an. Tausende Zuschauer empfingen Josef Fischer mit Hurra-Rufen nach seiner Fahrt über 582,5 km. Georg Sorge, der Zweitplatzierte, kam 54 Minuten später an. Dritter wurde der Österreicher Ferenc Gerger mit einem Rückstand von 3 Stunden und 21 Minuten auf Fischer. Innerhalb der Karenzzeit von 50 Stunden waren nur 37 Fahrer (Ergebnisliste ganz unten).

Dieses Rennen war tatsächlich der Auslöser eines wahren Fahrradbooms. Das Fahrrad erwies sich als unverwüstliches Reisegefährt und zudem auf lange Strecken erheblich schneller als das Pferd. Zahlreiche Fahrradmanufakturen entstanden, Fahrradclubs wurden gegründet, Radrennen erfreuten sich zunehmend größter Beliebtheit.

Die Idee „kickdistance2018“

Der Tretrollersport erfreut sich zunehmender Beliebtheit und doch wird er öffentlich kaum wahrgenommen. Immer noch hält sich allgemein die Meinung, Tretroller seien keine ernstzunehmenden Transportmittel und bestenfalls für kurze Strecken geeignet. Im Jahr 2013 fuhren ein internationales Team aus sechs Tretroller-Sportlern die gesamte Tour de France am Trittbrett. Dieses Projekt nannte sich „kickfrance2013“. Es folgte zwei Jahre später das Projekt „kickfrance2015“, wo 15 Tretroller-Fahrer die komplette Strecke Paris-Roubaix fuhren. Wieder zwei Jahre später gab es das wohl größte Projekt, nämlich „kickitaly2017“. Der gesamte Giro d’ Italia wurde von sieben Tretroller-Athleten gefahren. Diese drei Tretroller-Herausforderungen fanden jeweils einen Tag vor den entsprechenden Fahrrad-Rennen statt.

Route 2018

Route 2018

2013 war es die 100. Tour, 2017 war es der 100. Giro. Einem Zufall ist es zu verdanken, dass Guido Pfeiffermann rechtzeitig vor dem 125. Jahrestag der Distanzradfahrt von eben dieser erfuhr. Blitzartig war der Name „kickdistance2018“ geboren, quasi der Tradition ultralanger Tretroller-Fahrten verpflichtet. Die Analogie zwischen 1893 und 2018 könnte nicht schöner sein. Führten 1893 Fahrräder so eine Art Schattendasein, sind es 2018 die Tretroller. Die Distanzradfahrt leitete einst einen Fahrradboom ein. Das Projekt kickdistance2018 könnte einen Tretrollerboom einleiten.

582,5 Kilometer sollten in unter 31 Stunden zu kicken sein. Eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 18,89 km/h ist dazu erforderlich. Im Jahr 2012 wurde der immer noch gültige Weltrekord über 24 Stunden aufgestellt. Peter Groeneveld aus den Niederlanden brachte es auf sensationelle 545,904 km. Groeneveld fuhr quasi unter Laborbedingungen Runde um Runde auf einer 400m-Bahn ohne Höhenmeter und ohne verkehrsbedingter Störungen mit knapp über 22 km/h im Mittel. Auf öffentlichen Straßen sind 19 km/h von Wien nach Berlin möglich.

Das Datum und die Startzeit wurden Ende 2017 fixiert, der historischen Distanzradfahrt nachempfunden am ersten Wochenende nach der Sommersonnenwende um 6 Uhr. Die Streckenführung musste jedoch neu gelegt werden. Die für Rennradbereifung zulässigen Straßen ergeben eine kürzestmögliche Distanz von Wien-Floridsdorf nach Berlin-Tempelhof von über 600 Kilometer. Daher wurden Start und Ziel versetzt, sodass die Fahrstrecke nach 125 Jahren ebenfalls exakt 582,5 km beträgt.

Guido Pfeiffermann, EM 2017 (Salzburg)

Guido Pfeiffermann, EM 2017 (Salzburg)

Das Teilnehmerfeld

Guido Pfeiffermann

Guido Pfeiffermann

Die Projekte kickfrance2013, kickfrance2015 und kickitaly2017 waren nicht als Rennen angelegt, sondern als Tour. Ziel war es immer, als Team gemeinsam ins Ziel zu kommen. Das erklärte Ziel von kickdistance2018, also der Distanzfahrt von Wien nach Berlin, ist es, die Schallmauer des einstigen Helden Josef Fischer zu durchbrechen, also 31 Stunden oder weniger zu benötigen. Dies gelingt als Team nie, da man sich an den langsamsten Fahrer orientieren muss und vor allem die Pausengestaltungen immer im Konsens erfolgen müssen. Somit ist kickdistance2018 eindeutig ein Rennen.

Über Monate wurde für diese Veranstaltung auf Sozialen Netzwerken geworben. Letztlich bleiben ganze zwei Fahrer über: Rodger Hulsebos aus den Niederlanden und Guido Pfeiffermann aus Wien. Zwei Gründe gibt es für das „Kneifen“ der „üblichen Verdächtigen“. Zum einen sind zwei Wochen später die Weltmeisterschaften in Losser (Niederlande) und da möchten sich die Spitzenfahrer nicht im Vorfeld verausgaben. Zum anderen sind Fahrten von 24 und mehr Stunden Länge eine Herausforderung, der sich dann doch nicht so viele Tretroller-Fahrer stellen wollen.

Schade ist es um die Sache, aber es ist auch verständlich. So wird es also vom 30. Juni auf den 1. Juli ein Duell zwischen Rodger und Guido geben. Beide haben ihr eigenes Support-Team. Beide sind bestens auf die ultralange Fahrt vorbereitet und werden unterschiedliche Strategien hinsichtlich Geschwindigkeiten und Pausenintervallen und –dauer verfolgen.

Besondere Herausforderungen

Rodger Hulsebos

Rodger Hulsebos

Der Vergleich zwischen Fahrrad und Tretroller zeigt immer wieder, dass der Faktor von 1,5 beinahe so etwas wie eine naturgegebene Größe ist. Das heißt, dass man am Tretroller für eine Geschwindigkeit von 20 km/h etwa dieselbe Energie benötigt wie für 30 km/h am Fahrrad. Dasselbe gilt für die Höchstgeschwindigkeit in der Ebene. Hier sind mit dem Tretroller von Spitzenfahrern bis zu 40 km/h möglich. Am Fahrrad sind 60 km/h möglich. Diesen Faktor 1,5 kann man auch bei Distanzen anwenden. 100 Kilometer am Roller fühlen sich an wie 150 am Fahrrad. Schnell den Taschenrechner gezückt: die Fahrt von Wien nach Berlin fühlt sich am Tretroller an wie 873,75 Kilometer am Fahrrad. Die gekickten etwa 4.000 Höhenmeter entsprechen dann etwa 6.000 Höhenmeter am Rad.

Ein zu schnelles Fahren lässt den Bewegungsapparat zu schnell ermüden, ein zu langsames Fahren bewirkt eine längere Fahrzeit und damit Probleme mit dem Schlafentzug. Während der Nacht sind die steilsten Anstiege und vor allem auch die stärksten Gefälle. 1893 gab es Regen und Gewitter. Auch das kann es 2018 geben. Gegenwind wäre der wohl größte Gegner. Es wird also noch sehr, sehr spannend, wer von den beiden ins Ziel kommt und nach welcher Fahrzeit. Unverletzt und gesund in Berlin tretend anzukommen ist beiden zu wünschen.

Ergebnisliste Distanzradfahrt Wien-Berlin 1893

1 Joseph FISCHER (München, D) 582,5 km / 31:00:22,4
2 Georg SORGE (Köln, D) 54’32,6“zurück
3 Ferenc GERGER (Graz, Ö) 3:21’38“
4 Christian ANDERSEN (Kiel, D) 3:29’38“
5 Max REHAIS (Wasserburg, D) 3:41’38“
6 Paul MÜNDNER (Berlin, D) 3:54’10“
7 Oskar JANDER (Dresden, D) 4:04’18“
8 Hans TRAUGOTT HIRSCH (Magdeburg, D) 4:22’22“
9 Franz DVORAK (Smichow) 4:44’00“
10 Emil EICHHORN (Dresden, CZ) 5:35’08“
11 Bruno BÜCHNER 5:37’18“
12 Richard SIEBERT 5:51’18“
13 Wilhelm SPENGEMANN 6:06’18“
14 Fritz LAUENROTH 6:32’23“
15 Heinrich SCHULZE 7:26’28“
16 Edwin BAUER 7:28’28“
17 Oswald GRÜTTNER 7:39’53“
18 Joseph SOBOTKA (Ö) 7:51’38“
19 Paul KOTSCH 9:14’28“
20 Gustav ZWAHR 9:27’08“
21 F.H. KLAUS 9:28’38“
22 Franz SCHILLING (Ö) 10:46’46“
23 Norbert POHL (Ö) 10:56’28“
24 Wilhelm RITTERHAUS 11:09’36“
25 Dedo WINKLER 11:14’14“
26 Franz E. HUCKE 11:31’23“
27 Gustav SEILER 12:58’06“
28 Alfred KÖCHER 13:02’46“
29 Emil MEIRITZ 14:00’36“
30 Josef MEYER 14:54’20“
31 Richard HEINRICH 15:58’28“
32 F. BRINKMANN 16:17’45“
33 Jean HOFFMANN 17:12’09“
34 Moritz EHRENFELD (Ö) 17:29’57“
35 Emil WIENEN 17:59’57“
36 Paul RIEMER 18:00’52“
37 Fritz RÖYE 18:41’50“

117 Teilnehmer

Live-Berichte auf Facebook
https://www.facebook.com/Kickdistance2018-223884388158751/

Weiterführende Links:
https://de.wikipedia.org/wiki/Distanzradfahrt_Wien%E2%80%93Berlin
https://www.cycling4fans.de/index.php?id=1545
http://www.cyclingarchives.com/ritfiche.php?ritid=54391#ucira
https://www.routeyou.com/de-at/route/view/5054870/rennradroute/wien-berlin-2018
https://www.tritt.at/wp-content/uploads/2018/06/kickdistance2018_map.pdf

Videos:

 

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