223 Kilometer mit dem Tretroller an einem Tag durch elf Friesische Städte. Eine Tortur? Nein, das reine Vergnügen! Auf der ganzen Welt gibt es keinen Ort, an dem die Tretroller-Begeisterung der Bevölkerung größer ist als in Bolsward und Umgebung. Das muss man einfach einmal erlebt haben. Es ist das Mekka des Tretrollersports. Am 4. Juni 2017 durfte ich nicht nur dabei sein, sondern mitten drin…

Galerie

 

Stepelfstedentocht – was ist das?

Die Elfstedentocht (Elfstädtetour) ist ein Natureis-Langstreckenrennen im Eisschnellauf, das in den Niederlanden stattfindet und als bedeutendes kulturelles Ereignis erlebt wird. Erstmals 1909 ausgetragen, fand es wegen der immer wärmer werdenden Winter 1997 statt. Diese „tocht fan de tochten “ (Tour der Touren) ist ein 200 Kilometer langer Rundkurs auf zugefrorenen Entwässerungskanälen, Flüssen und Seen, der durch alle elf friesischen Orte mit historischem Stadtrecht führt.

Seit 1912 gibt es am Pfingstmontag die „Fietselfstedentocht“, also die Tour entlang eines Rundkurses durch diese elf Städte mit dem Fahrrad (fiets). Die maximale Teilnehmerzahl ist 15.000 , gestartet wird beginnend um 05:00 alle acht Minuten zu Blöcken von 500 Radfahrern. Ganz Friesland ist aus dem Häuschen. Die Straßen sind geschmückt, Kapellen spielen auf, Zuschauer entlang der 235 Kilometer langen Strecke. Ein unvergleichliches Erlebnis.

Gruppe kämpft gegen den Wind (c) Wim van der Meer

Gruppe kämpft gegen den Wind
(c) Wim van der Meer

Nun sind die sportlichen Holländer sehr einfallsreich. Deshalb gibt es diesen Elfstedentocht auch für Kanufahrer, für Mountainbiker, für Bootsfahrer, für Skating, für Inlineskater, für Skateboarden, für Standup Paddling, für Wanderungen, für Laufen, für Segeln, für Windsurfen und eben für Tretroller. Akribisch wird buchgeführt über jeden Bewerb und alle Teilnehmer. Geehrt werden Teilnehmer für mehrfaches Absolvieren der Tour in unterschiedlichen Disziplinen oder auch für Mehrfachteilnahmen von 10x, 25x oder 50x, nachzuschlagen unter http://www.walmar.nl/elfsteden.asp.

Für Tretrollerfahrer gibt es seit dem 26. Mai 1985 die Stepelfstedentocht. Pausiert wurde nur 2001 wegen der Maul- und Klauenseuche. Daher fand nun, am 4. Juni 2017 die 32. Stepelfstedentocht statt. Waren es 1985 genau 13 Tretroller, so verzeichnete man in diesem Jahr 228 Tretroller am Start. Veranstaltet wird diese Tour von der „Bolswarder Step Vereniging“. Start ist immer am Pfingstsonntag um 0:00 in Bolsward. Der Streckenverlauf entspricht dem der Fahrräder von der Fietselfstedentocht. Tags darauf. Eine Besonderheit ist, dass nur Felgengrößen von maximal 12,5 Zoll zugelassen sind. Die teilnehmenden Tretroller sind fast ausschließlich Marke Eigenbau, durchwegs mit Vollscheibenrädern, ohne Bremsen und aus Vierkantstahlprofilen fragil zusammengeschweißt. Als Gabeln dienen Fahrradgabeln größerer Fahrräder.

Im fernen Österreich erfuhr ich schon vor vielen Jahren von dieser Tour. Mit großer Begeisterung verfolgte ich über Facebook das Treiben Jahr für Jahr. Der Hype rund um diese Tour, die irgendwie auch ein Rennen sein müsste, da es auch jedes Jahr einen Sieger gibt, ist gigantisch. Für mich war bald klar, dass diese Veranstaltung das wohl Größte sein müsste, das der Tretrollersport zu bieten hat. Bei keiner Weltmeisterschaft, bei keiner Europameisterschaft sind derart viele begeisterte Menschen am Straßenrand zu sehen. Das Mekka des Tretrollersports. Dort müsste ich einmal im Leben hin, einmal dabei sein!

Wir und der kleine Yedoo

Kurz vor dem Start das Yedoo-Team (c) Josef Kvita

Kurz vor dem Start das Yedoo-Team
(c) Josef Kvita

Ende letzten Jahres war dann klar, dass Josef Kvita, Frédéric Benoist und ich, also die drei Burschen von Crossing Canada 2016, die Stepelfstedentocht 2017 machen würden. Welch schöner Anlass, dass wir drei einander wieder begegnen. Josef ist Tscheche, der in Kanada lebte und Fréderic ist Franzose und lebt in Paris. Ich lebe bekanntermaßen in Österreich. Es mussten jetzt nur noch 12-Zoll-Roller gefunden werden. Josef, der mittlerweile heimgekehrt war und in Tschechien seinen Lebensmittelpunkt hat, konnte die Firma Yedoo für uns gewinnen, einen Yedoo Friday (http://www.yedoo.eu/en/yedoo-alloy-scooters/yedoo-friday.aspx) speziell auf Stepelfstedentocht zu trimmen. Drei Prototypen wurden erstellt mit einem um 7 Zentimeter längeren Trittbrett, extrem gut gelagerten Radnaben und Rennreifen, die 5 bar vertragen, um den Rollwiderstand zu minimieren. Der Friday hat serienmäßig 16-Zoll-Räder, also wurde die hintere Gabel gekürzt und eine spezielle Vorderradgabel verbaut.

Kleiner Hinweis am Rande. Der Name Yedoo leitet sich vom Tschechischen Wort „jedo“ ab, das soviel heißt wie „ich fahre“. Etwa sagt man „jedu na koloběžce“. Bei Rennen in Tschechien hört man Leute aus dem Publikum immer wieder „Jeduu!!!“ rufen.

Frédéric konnte dann leider doch nicht teilnehmen. Für ihn sprang Josefs junger Bruder, Antonin ein. Er ist ein starker, schneller Tretrollerfahrer. Verrückt, wirklich verrückt war, dass ich meinen Yedoo erstmals in den Niederlanden probefuhr und als ich dann an der Startlinie stand, nicht einmal einen Kilometer damit zurückgelegt hatte. Nun, aber der Reihe nach.

Anreise und erste Meter am Yedoo

Josef, Lída, Antonin, Stepánka, Guido, Conrad (c) Josef Kvita

Josef, Lída, Antonin, Stepánka, Guido, Conrad
(c) Josef Kvita

Es stand für uns fest, dass wir eine Fahrgemeinschaft bilden würden nach Bolsward. Die Brüder Kvita nahmen als Begleitung noch ihre Schwester Štepánka und deren Freundin Lída mit. Mich begleitete mein Sohn Conrad. Wir trafen einander in Brünn und fuhren dann non stop über 1.050 Kilometer zum Start nach Bolsward. Ziemlich erledigt von der 13 Stunden langen Fahrt stiegen wir um knapp nach 8 Uhr morgens am Tag vor dem Rennen aus. Ein stiller, verträumter Ort. Booking.com fand mir ein Hotel 9,2 Kilometer von hier entfernt. Die Tschechischen Freunde waren auf Camping eingestellt und auch wir hatten für den Notfall Campingzeugs dabei.

Aufbau der Zelte (c) Josef Kvita

Aufbau der Zelte
(c) Josef Kvita

Ich kontaktierte Robert Witteveen, den Vorsitzenden der Bolswarder Step Vereniging, um ihn von unserer Ankunft zu berichten. Eine halbe Stunde später war er bei uns. Welch Freude! Wir kannten einander nicht persönlich, doch schrieben wir einander sehr viel im Vorfeld. Er beteuerte immer wieder, welche Ehre es für ihn sei, uns hier begrüßen zu dürfen. Nun, das fand ich beinahe schon übertrieben. Tatsächlich bekam durch ganz wenige Ausländer diese 32. Stepelfstedentocht einen gewaltigen Flair von Internationalität. Robert telefonierte mehrmals, um Conrad und mir dann mitzuteilen, dass es wirklich keine Zimmer mehr gäbe. Alles ausgebucht wegen des Fietselfstedentocht. So lotste er uns zum örtlichen Sportplatz, der umfunktioniert wurde zu einem Campingplatz. Hier ließen wir uns nieder. Die Tschechischen Freunde schlugen ihr großes Hauszelt auf, ich mein kleines Einmannzelt aus Kanada und Conrad hatte unser Auto als Schlafplatz, wohl das gemütlichste aller Zelte hier.

Die drei kleinen Yedoos, glänzend silber im unlackierten Aluminium wurden schnell zusammengebaut und ich schritt zu meiner persönlichen Jungfernfahrt. Josef und Antonin hatten schon viele Trainingskilometer in den Beinen. Wirklich verrückt! 230 Kilometer an einem Tag trauen sich wenige Leute am Tretroller zu. 230 Kilometer dann noch auf einem Roller mit nur 12 Zoll Rädern ist schon ein wenig der Wahnsinn, aber mit einem Roller zu fahren, den man nicht kennt, an den man sich nicht gewöhnt hat, grenzt an Irrsinn. Wo Irrsinn beheimatet ist, bin ich zuhause! Das ist so als würde man in ein Schuhgeschäft gehen, irgendwelche Freizeitschuhe kaufen, um vom Shop weg einen Marathon in unter 3,5 Stunden zu laufen.

Definitiv der erste Meter am Yedoo!!!! (c) Josef Kvita

Definitiv der erste Meter am Yedoo!!!!
(c) Josef Kvita

Welch Freude! Der Roller war weitaus besser als erhofft. Wirklich! Nur 6,39 Kilogramm! Aluminium. Wirklich extrem leicht laufende Räder und Reifen. Ich stand drauf und fühlte mich wohl, ganz wenig schraubte ich noch am Lenker und am Bremshebel. Dann war die Einstellung für mich wie maßgeschneidert. Ich verlor alle Sorgen, ich würde Verspannungen oder irgendwelche Schmerzen aufgrund der stundenlangen Belastungen bekommen können. Der kleine Friday fuhr sich locker wie ein großer Roller, schon am Rasen des Fußballplatzes und erst recht dann draußen am Asphalt.

Vor dem Start

Zweimal machte ich ein Drei-Stunden-Nickerchen im Auto. Schließlich war ich es, der die ganze Nacht mit dem Wagen durchgefahren war und am Vortag gearbeitet hatte. Ich würde die Elfstädtetour nicht überlegen, könnte ich jetzt nicht ein wenig durchschlafen. Das klappte alles wunderbar. Die wenigen Stunden vor dem mitternächtlichen Start vergingen schnell. Ein wenig essen und trinken, Spazieren durch die Stadt, Roller technisch vorbereiten, Proviant packen, Umkleiden, noch einmal checken, ob wirklich nichts fehle. Und dann gemütliches Rollern zur Registrierstelle, dem Cafe Coco in Bolsward. Es war 22:30. Der Himmel war ungewöhnlich hell, die Menschenmengen im Ort gewaltig. Livemusik, hunderte Leute an Tischchen sitzend, trinkend, in bester Stimmung. Andere Tretroller sahen wir keine. Die würden schon noch kommen. Ein Tandem mit fünf Musikanten darauf fuhr immer wieder an uns vorbei und die Tretenden machten Musik. Volksfeststimmung!

Dann kamen die ersten Tretroller daher, mit jeder Minute mehr. 25 Euro zahlte man Startgebühr und bekam dafür ein kleines Heftchen, das abzustempeln sei. In jeder Stadt ein Stempel und gleich zu Beginn gab es einen. Nur wenn man alle Stempel hat, gilt man auch als Finisher. Allmählich wurde es dicht in dem Städtchen. Immer mehr Tretrollerfahrerinnen und Tretrollerfahrer und noch viel, viel mehr Zuschauer.

Interview in Deutsch für Friesland Actueel (c) Josef Kvita

Interview in Deutsch für Friesland Actueel
(c) Josef Kvita

Ein Redakteur von Friesland Actueel hielt mir ein Mikrofon vor die Nase und stellte mir Fragen auf Deutsch. Angenehm. Ich antwortete natürlich auf Deutsch. Ich wurde von einem Handy mit Assistenzlicht gefilmt. Woher ich denn überhaupt als Österreicher wisse von der Existenz dieser Veranstaltung, wollte der Mann wissen. „Die ganze Welt kennt diese Tour“, meinte ich, schränkte dann ein, dass es die ganze Tretroller-Welt sei. Immer wieder ertönte durch die Lautsprecher, dass Gäste aus Deutschland, Österreich, Tschechien und Italien dabei seien. Dann wurde auch immer wieder erwähnt, dass Mario Reijne und Peter Visser ihre 30. Stepelfstedentocht treten. Ach, Mario Reijne! Auf ihn freute ich mich besonders und er sich auch auf mich. Während ich interviewt wurde, sah ich ihn und seine so erfolgreichen Töchter Rosanne und Maxime. Dann waren sie alle wie vom Erdboden verschluckt.

Im Cafe Coco traf ich sie dann mitten im dichten Menschengewühl. Mario kam auf mich zu, begrüßte mich herzlich mit einer Umarmung. In diesem Augenblick kam auch Matteo Luzzana aus Italien zur Tür herein, ebenfalls herzliche Begrüßung. Wie jedesmal bei internationalen Tretroller-Veranstaltungen spürte man auch hier diesen großen Zusammenhalt, dieses Familiäre. Wir kennen einander quasi nur über Facebook, beobachten die jeweils anderen quasi wöchentlich und freuen uns mit ihren Tretrollerabenteuern. Irgendwie eine schräge Sache, wenn man auf Menschen erstmalig trifft und so viel von ihnen weiß, sie aber auch von einem so viel wissen. Ich hatte ja überhaupt das Gefühl, alle würden mich kennen. Nun, das Crossing Canada 2016 war schon eine echt große Geschichte und wir drei Yedoo-Fahrer hatten jetzt auch unsere gelben CC17-Trikots an.

Start

Kurz vor dem Start (c) Josef Kvita

Kurz vor dem Start
(c) Josef Kvita

Die Minuten zum mitternächtlichen Start vergingen immer schneller. Smalltalk mit allen möglichen Leuten, alle fröhlich, überdreht, euphorisch. Musik aus allen Richtungen. Schuhbänder noch einmal gut zu machen, zwei, drei Schlücke aus der Trinkflasche. Plötzlich wurde der Countdown angezählt und pünktlich erfolgte das Startsignal. Getöse! Der Tross hinter dem Leitfahrzeug setzte sich in Bewegung. Wir drei warteten bis das Ende sich uns näherte. Am Ende waren die Reijnes mit ihrer sechsköpfigen Mannschaft. Mario sagte mir, dass es ganz hinten am besten sei. Dann werde man nicht von so vielen Beinen getreten. Einem Routinier glaube ich alles. Wir ließen Štepánka, Lída und Conrad zurück und waren Teil der leuchtenden Tretrollerschlange, die wohl bis zu einem Kilometer lang war. Um Conrad brauchte ich mich nicht zu sorgen. Er war in guten Händen. Die drei würden dann zum Campingplatz gehen, gut acht Stunden schlafen, um dann tagsüber mit dem Auto zu uns zu stoßen, quasi als Support-Team.

Die Nacht

Überraschend kalt war es. Eigentlich wollte ich sogar kurzarm fahren, zur Sicherheit mit einer Regenjacke. Jetzt hatte ich meine baumwollene Kapuzenjacke an und die Regenjacke als Windschutz darüber. Eine lange Hose wäre jetzt angebracht gewesen, doch ging es auch mit der kurzen. Die Einheimischen wussten sich besser zu kleiden. Lange Hosen und windfeste Jacken. Man lernt dazu.

Josef überraschte mich nach kurzer Zeit, als er darauf hinwies, dass wir schon 5 Kilometer gefahren waren. Die Zeit verging wie im Flug. Ganz hinten war man ja im besten Windschatten, brauchte keine Kraft und ließ sich einfach nur durch die Nacht ziehen. Wir befuhren nur Radwege. Holland ist das Land der Radfahrer. Das ist hinlänglich bekannt. Wie toll es wirklich ist, merkten wir jetzt. Die ganze Tour führte zu geschätzten 98% über Radwege, breit ausgebaut mit ungefährlichen Kurven. Das war auch wichtig, denn die Roller hatten wirklich keine Bremsen. Man bremste entweder mit der Schuhsohle am Hinterreifen oder mit der Schuhsohle am Boden. Letzteres macht herrlich typische Schleifgeräusche. Diese hörte man immer wieder, wenn Leute ihre Geschwindigkeit etwas verringern wollten oder einmal wirklich ein Bremsen notwendig war. Mit meiner Hinterbremse fühlte ich mich erheblich besser als ich mich ganz ohne Bremse gefühlt hätte.

Jubel und Feuerwerk

Bengalisches Feuer (Screenshot aus einem Video) (c) Friesland Actueel

Bengalisches Feuer (Screenshot aus einem Video)
(c) Friesland Actueel

Schon lange waren wir aus Bolsward draußen, fuhren durch das Schwarz der unbeleuchteten Abschnitte zwischen zwei Ortschaften. In den Ortschaften immer dasselbe. Menschen standen am Straßenrand und jubelten uns zu, egal ob es Mitternacht war oder halb zwei in der Nacht. Ab und zu gab es sogar mitten im Nirgendwo Menschengruppen, die neben dem Radweg standen und uns zuriefen „He-iijjj!!“. Wir riefen „He-iijjj!!“ zurück, klingelten, hupten. Es war ein einziges großes Fest. Meist fuhren wir in Zweierreihen, also 114 Paare mit einem Abstand von mehr als 5 Meter zum Vordermann. Da war diese Tretroller-Schlange dann immer so 600 bis 800 Meter lang. Vorderlichter beleuchteten weiß den Radweg, rote Rücklichter blinkten oder glimmten warm in die Nacht, einige hatten auch bunte Beleuchtungen am Roller.

Mario bereitete mich schon darauf vor, dass die Stille der Nacht etwas ganz besonderes wäre. Davon merkten wir nichts. Einmal wurden wir von einem Bengalischen Feuer in einem der Dörfer überrascht, einmal gab es beim Vorbeifahren gleich ein paar Feuerwerksraketen. Und immer diese fröhlichen, ausgelassenen Menschen. Nur 228 Tretrollerfahrer rollten durch Friesland und tausende Menschen säumten die Straßen. Ja, wirklich, nur unseretwegen, denn die Radfahrer sollten ja erst tags darauf vorbeizischen.

Dann aber war es irgendwann wirklich sehr ruhig, überland zumindest. Wir fuhren sehr langsam, so einen 15er-Schnitt und nach zwei Stunden redeten wir untereinander auch nicht mehr so viel. Anders als Fahrräder sind Tretroller extrem lautlos, da es keine Ketten gibt oder Freilaufnaben. So war es fast schon gespenstisch, wenn da ein 800 Meter langer Leuchtwurm lautlos durch die Finsternis gleitet. Nur ab und zu das Kratzen der Fußsohlen am Asphalt.

Erste Pause

Nach Franeker bei etwa 30km machten wir die erste längere Pause. Gestempelt wurde hier noch nicht. Als Neuer hier und nicht der Landessprache Mächtiger weiß man nie so ganz was jetzt abgehe. Wir standen unter einer Brücke. Etwa sechs bis acht Begleitfahrzeuge waren hier. Man bekam Bananen, Snacks und Wasser. Alles perfekt durchdacht. Hier hatten alle ausreichend Platz. Würde es regnen, blieben wir trocken und viel Licht hatten wir obendrein unter der beleuchteten großen Brücke. Mobile Toiletten waren auch hier. Einfach perfekt. Die Pause dauerte über zehn Minuten, irgendwie eine Ewigkeit, denn wirklich erschöpft waren wir ja alle nicht bei dieser geringen Geschwindigkeit. Wann würden wir nur im Ziel sein, wenn es so langsam weiter gehe?

Es ging weiter. Eine Zeit lang fuhren Mario und ich nebeneinander und quatschten so über die Elfstedentocht und über das Rollerfahren an sich, die Nachwuchsarbeit und was einem eben so einfällt, wenn man am selben Strang zieht. Er ist seit Jahrzehnten einer der Wichtigsten in den Niederlanden. Ich bin gewiss einer der Wichtigsten in Österreich, nur eben ist Österreich ganz am Anfang und die Niederlande schon weit vorne. Es tut gut, sich mit lebenden Legenden auf Augenhöhe zu unterhalten und von ihnen auch größte Wertschätzung zu empfangen.

Speed Up

In Dokkum gab es dann eine sehr spezielle Pause. Denn hier brach der Tag an und die allgemeine Langsamkeit war zu Ende. Nun konnte jeder sein eigenes Tempo fahren. Fast hätten wir zu stempeln vergessen. Den fünften Stempel hatten wir nun und es waren noch 153 km bis ins Ziel. Meine Regenjacke zog ich nun aus, die hellblaue TTVÖ-Jacke ließ ich aber noch an. Josef, Antonin und ich blieben zusammen und mussten uns an ortskundige Fahrer anheften. Zwar gab es hie und da am Kreuzungen gelbe Bodenmarkierungen, die den richtigen Weg wiesen, doch gab es auch Weggabelungen, wo man sehr leicht sehr falsch abbiegen konnte. Die GPS-Datei hatte ich mir nicht auf mein Garmin gespielt. Kartenmaterial hatte ich auch nur als Screenshot am Handy.

Für kurz einmal im Schatten (c) Tina Adema

Für kurz einmal im Schatten
(c) Tina Adema

War das Tempo zuvor bei 15 km/h und die Herzfrequenz bei 105, so schoss die Pumpe rauf auf einen Durchschnitt von 155 bei einer Geschwindigkeit von 20 km/h oder darüber. Jetzt fühlte ich mich so richtig wohl und meinen gelben Yedoo-Freunden ging es wohl nicht anders. Gemeinsam überholten wir immer wieder kleine Gruppen Rollerfahrer. Das Problem war ja nur, niemals alleine zu sein. Das heißt, vor uns oder knapp hinter uns mussten wir immer Holländer haben.

Der Tag brach an und es wurde immer heißer. Die Jacke hatte ich bald ganz offen. In Leeuwarden, nach 26 Kilometern gab es dann das nächste Stempeln und auch einen kleinen Stop. Wieder eine kleine Pause. Jetzt erst verstand ich. Man wartete immer bis die meisten angekommen waren und dann erst ging es weiter. Daher wurde auch immer erst am Ende der Pause gestempelt und nicht am Anfang. Man sollte nicht einfach weiterfahren. So war das gesamte Feld dann doch immer eher beisammen. Das ist organisatorisch wirklich besser so, auch wegen der Betreuerfahrzeuge. Außerdem ist es immer wieder schön, wenn man einander trifft.

Josef rief nun seine Schwester Štepánka an, um unsere Koordinaten durchzugeben. Da der nächste Stopp aber wieder Bolsward war, also der Ort, von wo aus wir starteten und wo auch unser Support-Team nächtigte, machten wir gleich aus, dass wir einander dort treffen würden. Meine Jacke musste ich ausziehen und ich schmiss sie in eines der Betreuer-Autos. Das war kein offizielles Fahrzeug. Es gehörte zu einem Sportclub, dem ein Typ angehörte, den wir gleich nach unserer Ankunft in Bolsward getroffen hatten, ein über zwei Meter großer, rotblonder Friese mit Stoppelbart, leicht in der Menge zu finden. Ach, war das gut ohne Jacke, auch wenn der Wind während der Pause doch etwas viel kühlte.

Die großen Holländer

verdammt schnell die Damen! (c) Marlies Roeleveld

verdammt schnell die Damen!
(c) Marlies Roeleveld

Endlich ging es weiter, wieder recht flott. Mario und seine Leute fuhren eher langsam und immer hinten. Später in Bolsward sollte ich dann wissen warum. Ich musterte die Leute auf ihren Tretrollern. Auffallend waren mir zwei Umstände. Erstens waren die Leute im Durchschnitt recht groß, gefühlte 10 Zentimeter größer als die Leute in Wien. Und zweitens sahen viele von ihnen gar nicht so sportlich aus. Oh, da konnte man sich leicht täuschen. Die Holländer fahren das ganze Jahr Fahrrad oder eben Tretroller und wenn es Minusgrade gibt, fahren sie stundenlang Schlittschuh. Die Leute hier waren alle körperlich extrem gut drauf. Einige wenige Damen beeindruckten mich sehr, hatten sie doch diese klapprigen Selbstbauroller mit großem Rollwiderstand und fuhren mir immer wieder davon, wenn Gegenwind kam.

Halluzinationen und Unzerstörbarkeit

Alles fühlte sich herrlich an. Jetzt gab es wieder Rückenwind. Von Leeuwarden nach Bolsward war es echt gemütlich und flott. Halbzeit von den Kilometern her. In Bolsward angekommen waren es sogar 130 km und nur noch gute 90 sollten uns fehlen. Mir tat körperlich überhaupt nichts weh. Der kleine Yedoo passte mir also von der Geometrie. Das sehr tiefe Trittbrett tat echt gut. Keinen Hunger hatte ich und keinen Durst. Alles passte. Okay, ein wenig Kopfweh hatte ich. Da trank ich dann etwas mehr und dachte mir die leichten Schmerzen weg. Sie waren dann auch wieder weg. Total munter war ich jetzt wieder. Während der Nacht hatte ich echte Probleme und kämpfte sehr gegen die Müdigkeit. Mehrmals halluzinierte ich und sah mitten im leuchtenden Tretroller-Convoy einen hell erleuchteten Lastwagen mit offener Ladebordwand. Auf der Ladebordwand stand ein Roller mit einem Rollerfahrer, der sich einfach führen ließ. Ein andermal stand auf der Ladebordwand eine leuchtende Kuh. Zum erstenmal in meinem Leben hatte ich solche argen Sinnestäuschungen. Das war echt nicht schön, zumal ich sogar mit Sekundenschlaf kämpfte. Einmal kam ich kurz vom Radweg ab. Ich glaube, ich war eingeschlafen. Jetzt, bei hellstem Sonnenlicht, blitzblauem Himmel und sommerlichen Temperaturen, aufgeheizt auch durch höheren Puls, war ich in diesem herrlichen Zustand der Unzerstörbarkeit. Keine Müdigkeit, keine Schwäche, keinen Bedarf auch nur irgend etwas zu essen oder zu trinken, den Drang weiter zu fahren, immer weiter zu fahren, nie stehen zu bleiben.

Lost in Bolsward

Im Nu waren wir wieder in Bolsward. Wir waren so in einer losen Ansammlung von etwa zehn Rollerfahrern. Aber was war das? Einer nach dem anderen klinkte sich aus, einmal bog jemand links ab, dann wieder einer rechts, dann blieb jemand stehen. Wir drei folgten einer Dame, die wir die ganze Zeit im Visier hatten. Sie war sehr schnell und war für uns irgendwie Vorbild, da sie keine wie auch immer gearteten Ermüdungserscheinungen hatten und das, obwohl sie ein langes Shirt an hatte und darüber eine Jacke, die auf mich viel zu dick wirkte. Sie war unser Samurai und wir ihre Gefolgsleute. Doch was war mit der Frau Samurai? Sie fuhr in unseren Campingplatz und blieb dort. Wir waren alleine. Hatten wir uns verfahren? Waren wir von der Strecke abgekommen? Ziemlich sicher! Und was machten die Leute hier alle? Wohnten sie in Bolsward und fuhren sie nur die erste Schleife der Elfstedentocht mit? Das konnte gut möglich sein. Vielleicht gab es nur einen ganz kleinen Kern harter Leute, die alle 230 Kilometer fahren und die meisten beenden nach 130.

Wir pausierten hier einmal. Ich schmierte mich mit Sonnencreme ein, denn jetzt begann die Sonne so richtig runterzuknallen. Ein Erdnussbutterbrot verdrückte ich und einen Energy-Riegel. Den Helm band ich an den Lenker und setzte mein orange-schwarzes Paris-Roubaix-Kapperl auf. Josef und Antonin fuhren schon wieder. Schnell schmiss ich mich aufs Trittbrett und ihnen nach. Wir fuhren ins Zentrum. Dort erfuhren wir bei einem Fahrradshop, dass es um 10:30 von hier aus wieder weiter gehen würde. Jetzt war es gerade einmal 9:30. Echt verrückt!! Jetzt verstand ich Marios langsames Tempo und später verstand ich es noch besser, als nämlich das ultraschnelle Finale kam.

Unser Support-Team

Längere Pause um die Mittagszeit in Bolsward (c) Josef Kvita

Längere Pause um die Mittagszeit in Bolsward
(c) Josef Kvita

Stempeln konnte man hier nicht. Erst in einer Stunde. Dafür konnte man sich im Shop massieren lassen und Suppe würde es auch bald geben. Wir seien viel zu früh hier. Ja, Schnelligkeit wird hier bestraft. Da kam unser Support-Wagen. Conrad und die beiden Damen waren wohlauf. Sie parkten bei uns und gemeinsam schlugen wir die Zeit tot. Suppe gab es dann auch bald, Sonne im Überfluss und allmählich versammelten sich alle Rollerfahrer rund um den Radshop. Karte Abstempeln. Los ging es zur Südschleife, zuerst mit Rückenwind, dann mit Gegenwind, etwa 46km von Bolsward weg und dann wieder zurück. Ich fuhr nun ohne Helm, Antonin ebenfalls. Wir beide trugen Schirmkappen und passten gut ins Gesamtbild. Josef zählte mit seinem Helm zur absoluten Minderheit. Eine Stunde vor dem Start sagte mir jemand, der Helm sei in der Nacht Pflicht. Sicherheit gehe vor. Daher holte ich meinen Helm noch schnell vom Campingplatz. An sich wollte ich ja alles helmlos fahren. Tja, nix mit Pflicht. Nahezu alle waren ohne Kopfbedeckung oder mit Tuch am Kopf oder Kappe. Das passte auch irgendwie gut zum Fahren ohne aller Bremsen.

Reifenplatzer

Reifenplatzer in Ijlst (c) Josef Kvita

Reifenplatzer in Ijlst
(c) Josef Kvita

Herrlich schnell ging es dahin. Štepánka fuhr mit dem Auto immer wieder neben uns auf der Straße, gelegentlich auch am Radweg. Niemanden störte dies. Immer wieder fuhr sie auch vor, hielt an und fotografierte uns. Bei mir lief es dann so gut, dass ich meine zwei Kameraden zurück ließ und mein Tempo, ein schnelles Tempo, fuhr. Wurde ich schneller je lange der Tag dauerte? Oder wurden die anderen langsamer? Ich denke, Zweiteres. Ich überholte sehr viele Leute vor mir, auch Mario und Rosanne. Wir begrüßten uns fröhlich. Leichter Rückenwind, lange Schritte mit meinen langen Beinen, manchmal längere Zeit mit 23 km/h. Das machte einfach Spaß. In Sneek und in Ijlst wurde gestempelt aber nicht richtig pausiert. In Ijlst hatte ich kurz nach dem Stempeln genau neben unserem Auto einen Reifenplatzer. Da war ich schockiert. Was jetzt? Wir hatten ein komplettes Reserverad im Gepäckraum. Das wollte ich haben. Josef machte sich aber blitzartig ans Schlauchwechseln. In unglaublichen zwei Minuten war er damit fertig. Die wulstigen Reifen gehen extrem leicht von den Felgen. Ich war überrascht. Nach eben nur zwei Minuten waren wir auch schon wieder auf Achse. Witzigerweise wurde das alles auch mit Josefs Helmkamera gefilmt. Eine echte Pause gab es dann in Sloten. Dort wartete cremiges, weiches Vanille-Eis auf uns. Das war genau das Richtige jetzt.

Die Steps der Holländer

Wie praktisch war es doch, dass wir nun unser persönliches Begleitfahrzeug hatten. Mein rotblonder Zweimeter-Freund erinnerte mich an meine hellblaue Jacke im Auto seiner Betreuer. Die holte ich mir jetzt und gab sie zu meinen Leuten. Mario trat an mich heran. Jetzt könnten wir wechselweise Tretroller testen. Irgendwann während der Nacht meinten wir ja, dass wir später einmal Roller tauschen müssten. Marios Stahlrahmen-Roller ist 25 Jahre alt und hat Vollscheibenräder, ein echt schweres Stück, sehr retro wirkend, in Dottergelb. Während der Fahrt tauschten wir also nicht. Stattdessen drehten wir jetzt Runden mit dem jeweils anderen Roller. Ja sapperlot! Wie konnte Mario nur mit einem so schweren Monstrum fahren. Der wog ja locker über 12 Kilo und aufgrund der Trägheit der Vollscheibenräder konnte man das Ding ja überhaupt nicht beschleunigen. Er meinte, wenn er rollt, dann rolle er ganz super, nur müsse man einmal auf Speed kommen. Bei der ersten engeren Kurve kam ich dann gleich gehörig ins Schwitzen, hatte der gelbe Bulldozer doch keine Bremsen montiert! Huch, war ich froh, meinen wieder zu haben, ein leichtfüßiges, elegantes, leicht laufendes Ding in chromglitzerndem Aluminium.

Mario bei der Probefahrt mit meinem leichten Yedoo (c) Josef Kvita

Mario bei der Probefahrt mit meinem leichten Yedoo
(c) Josef Kvita

Rosannes Freund Daan stand dann auch bei uns. Er hatte einen Leihroller von der Bolswarder Step Vereniging. Die verleihen Roller für 60 Euro, wobei die Anmietung im Jänner beginnt und bis zum Stepelfsteden dauert. Recht preiswert also. Ich durfte mit diesem Ding auch eine Runde drehen. Uff! Da passte ja gar nichts. Schwer vom Gewicht, schwer aber auch zu lenken und zu treten, sehr aufrechte Haltung, großer Rollwiderstand. Als ich Daan den Roller zurückgab, meinte ich nur: „Respect!“ Alle lachten. Daan war gemeinsam mit Rosanne 15 Minuten vor mir im Ziel. Einfach unglaublich! Rosanne und Maxime hatten auch alte Stahlrahmenroller, wobei die beiden sehr tiefe Lenker hatten, was ein großer Vorteil bei Gegenwind ist, aber wohl auch aufs Kreuz geht. Die beiden sind aber sehr gut trainiert und haben bei den Rennrollern die Lenker ebenfalls sehr tief.

Lange Pause und Krämpfe

Stempeln, Trinkflasche nachfüllen. Und los ging’s! Eigentlich ging es nur recht kurz weiter, nämlich gerade einmal 12 Kilometer nach Oudemirdum. Der Vordruck auf der Stempelkarte verriet, dass es von hier aus um 14:30 weiter ginge. Noch eine Stunde warten. Schon wieder. Schön langsam nervten uns die langen Pausen. Man kühlt muskulär aus und wirklich müde war ja niemand. Oder umgekehrt wird man ja müde, je länger der Tag dauert, also wäre es doch besser, schnell im Ziel zu sein, schnell wieder am Campingplatz. Mario hatte mich schon darauf vorbereitet was jetzt kommen würde. Wie die Verrückten würden dann um 14:30 alle losfahren, da es von da an wirklich ein Rennen wäre. Zweimal bis zum Zieleinlauf müsste man noch stempeln, doch würde man dann gar nicht halt machen. „Schnell, schnell, schnell“, heißt die Devise. Nach dem Stempeln in Stavoren seien alle ausgepowert und das Tempo gehe zurück. Mir eigentlich egal, denn ich wollte gar kein Rennen fahren, mochte einfach nur die Tour genießen und Chancen auf einen Sieg hätte ich sowieso nie gehabt.

Impressionen unterwegs (c) Josef Kvita

Impressionen unterwegs
(c) Josef Kvita

Zeit totschlagen bis zum Start. Ich legte mich ins Gras neben dem Gehsteig. Die meisten lagen oder saßen hier. Plötzlich krampfte es in den Beinen, ziemlich schlimm. Ein paar Minuten ging das so. Štepánka reichte mir ein kleines Päckchen mit Magnesium. Schnell schüttete ich mir das Pulver rein und trank mit Wasser nach. Eine wirklich helfende Wirkung konnte ich nicht feststellen. So stellte ich mir einfach die helfende Wirkung vor. Schneller als gedacht war die Wartezeit um und wir stellten uns auf.

Start des eigentlichen Rennens

14:30 in Oudemirdum. Kurz vor dem Start zum eigentlichen Rennen

14:30 in Oudemirdum. Kurz vor dem Start zum eigentlichen Rennen

Nun hatte niemand mehr eine lange Hose an. Mir fielen vor allem die Damen auf, die sehr viel Haut zeigten. Es war wirklich sommerlich. Geregnet hatte es nie. Außergewöhnlich für Holland. Wieder wurde runter gezählt. Mario hatte recht. Alle fetzten los wie von der Tarantel gestochen. Mit uns Dreien fuhr immer wieder Peter Visser. Sehr bald aber waren mir die drei zu schnell und ich fiel zurück. Antonin hat echt Kraft. Ein kleines Bürschchen, gerade einmal 18 oder 19 Jahre alt. Nach einiger Zeit überholten die drei jene Dame, die zuvor die zwei Schichten langarmiges Zeugs an hatte. Sie visierte ich nun an. Ich musste sie einholen und überholen. Leider wurde der Abstand zwischen ihr und mir immer größer und irgendwann verlor ich sie aus den Augen. Unglaublich. Hier trafen sich wirklich sehr starke Gegenwindfahrerinnen und Gegenwindfahrer!

Getragen vom Publikum

Stempeln in Stavoren. Ich war nun mutterseelenallein. Hinter mir sah ich auch niemanden mehr kommen. Das Feld war zerrissen. Verfahren sollte ich mich jetzt nicht mehr können, denn den Weg bis Bolsward säumten Menschen. Welch unglaubliche Stimmung! Immer noch und immer wieder wurde man von den Menschen angefeuert. Es war schlicht unglaublich. Da standen zwei Jugendliche mit Tattoos neben einem Auto. Als ich mich ihnen näherte, stieg ein weiterer aus dem Auto aus und die drei Burschen schrien mir zu „He-iijjjj!!“ und „ Go! Go! Go!“ Wie gerne hätte ich ihnen dankend zugewunken, doch war ich so sehr mit mir beschäftigt, schnell und stark zu treten, irgendwie die Dame vor mir wieder in Sichtweite zu haben.

irgendwo bei Gegenwind (c) Marlies Roeleveld

irgendwo bei Gegenwind
(c) Marlies Roeleveld

Mein Dank an die begeisterten Menschen zeigte sich in einem überfreundlichen Zurückgrinsen. Ich hatte nicht die Power so wie während der ersten Stunden der Tour lauthals „He-iijjj!“ zurückzuschreien und ein Winken und damit einhändiges Fahren geht am Roller bei hoher Geschwindigkeit nicht gut. Eine junge Mutter mit einem Kleinkind an der Hand und einem weiteren Kind im Kinderwagen feuerte mich euphorisch an. Da musste ich mich umdrehen. Niemand hinter mir. Das Anfeuern galt mir, dem leuchtgelben Österreicher. Ein bewegender Moment folgte nahtlos dem nächsten. Der Weg nach Hindeloopen, wo wieder gestempelt wurde, führte entlang eines hohen Deichs. Auf der steilen Wiese dieses Deichs saßen und lagen Zuschauer, hunderte. Gut die Hälfte von ihnen feuerten mich an, fotografierte mich, klatschten, hupten. Wirklicher Wahnsinn. Dies ließ mich fast vergessend machen wie schlimm der Gegenwind doch war. Links war dieser Deich, dahinter das Meer. Im Himmel sah man 100 bis 200 große Lenkdrachen in allen Farben im tiefblauen Himmel tanzen. Der Deich und die Wiesen waren grün, vereinzelt gab es Bäume. Radfahrer kamen mir entgegen, Mopeds überholten mich. Sie grüßten mich und winkten. Das war ein Vorgeschmack was noch kommen möge. Robert und Mario, aber auch Rosanne und der rotblonde Riese schwärmten vom Zieleinlauf, weil es so eine Stimmung nirgendwo sonst gäbe. Beim Gedanken an diese bald Realität werdenden Szenen überrollten Freudentränen meine Backen.

Ich merkte wie ich unwillkürlich langsamer wurde. Mein Puls sank auf unter 150 und wollte auch nicht mehr nach oben gepusht werden. Innerlich spürte ich, in einer Tour zu sein und nicht in einem Rennen. Hinter mir war niemand zu sehen, vorne auch nicht. Warum also sollte ich schneller werden. So konnte ich die reizvolle Landschaft genießen und das herrliche Wetter und am allermeisten den Jubel. Plötzlich nahm der Jubel ganz andere Töne an, eher so ein befehlsartiges Geschrei war zu vernehmen. Falsch abgebogen war ich und dutzende aufmerksamer Augenpaare sahen dies. Das Geschrei wusste ich zu deuten, drehte schnell um und nahm den anderen Pfad der Weggabelung, bedankte mich bei der Menge mit nach oben gestrecktem, winkendem Arm. Man applaudierte. Weiter entlang des Deichs, weiter gegen den Wind, weiter in eher gemütlichem Tempo.

im "Rennen" allein auf weiter Flur (c) Wim van der Meer

im „Rennen“ allein auf weiter Flur
(c) Wim van der Meer

Stempeln in Hindeloopen. Das ging ruck zuck. Eine Art kleiner Straßensperre, ein paar Leute dort, ein Mann mit leuchtgelber Warnweste, einem A4 großen Blech als Stempelunterlage in einer Hand, den Stempel druckbereit in der anderen. Im Hinrollen zog ich mein Stempelkärtchen aus der Lenkertasche, hielt sie ihm hin, er nahm, stempelte, gab sie mir. Alle wünschten mir gute Fahrt, sagten, dass es nun nicht mehr weit sei. Ich faltete das Kärtchen und packte es wieder ein. Kräftigen Tritts beschleunigte ich grinsend. Nun ging es ein Stück nach Osten, weg vom Meer. Der Wind kam von der Seite und ein klein wenig von hinten. Welch Wohltat.

Die lange Gerade endete bei einer Menschenmenge. Man feuerte mich wieder an. Immer dasselbe. Immer auch meine Sorge, den ausharrenden, frohen Menschen nicht genug Dank entgegen zu bringen, da ich schweigend vorbei zog, beide Hände am Lenker. Die Bodenmarkierung zeigte einen gelben Pfeil nach rechts. Dem folgte ich, auch wenn der Straßenverlauf nach links ging. Nach zehn Metern fragte ich die Leute, ob ich denn überhaupt richtig sei. Sie lachten erheitert und zeigten in die andere Richtung. Wie ein Chor lachten sie, so als hätte ich den besten Witz des Tages losgelassen. Ja, sie lachten mich nicht aus. Sie lachten einfach mit mir und über die Komik, die sie erkannt haben wollten. Beschwingt trat ich wieder in meine Hauptrichtung, wieder gegen den Wind.

Genussfahrt

Die Krämpfe in den Beinen meldeten sich zurück. Das war natürlich unangenehm. Etwa 15 Kilometer hatte ich noch vor mir und ich musste das Tempo noch weiter runternehmen. Die Gleichgewichtsübung zwischen null Krampf wegen Bewegungsarmut und extremen Krampfleiden wegen Überbeanspruchung hatte ich gut drauf. Mehr spürte ich den Krampf im linken Bein, weshalb ich für eine Zeit lang mit dem rechten mehr Schritte machte.

Guido unterwegs mit einem Radfahrer, der zum 47. Mal teilnimmt (c) Dooitze van den Berg

Guido unterwegs mit einem Radfahrer, der zum 47. Mal teilnimmt
(c) Dooitze van den Berg

Nach nur einem Kilometer war ich wieder schmerzfrei, wusste aber, dass die Krämpfe jederzeit wiederkommen könnten, wäre ich auch nur einen Tick zu schnell. So kam ich zum letzten Stempel vor dem Ziel. Ich fuhr durch Workum. Nur noch 12 Kilometer also. Immer noch allein auf weiter Flur. Gegenwind, Sonne. Aber keine Ermüdungserscheinungen, keine Schmerzen, keine wie auch immer gearteten negativen Gedanken. Immer noch und stets anhaltend Jubel links und rechts. Vorfreude auf den Zeileinlauf. Wieder Freudentränen. Ich visualisierte den Zieleinlauf. Meine Schirmkappe würde ich vor den Menschenmassen ziehen, mich ehrfurchtsvoll verneigen, mich symbolisch bei all den Tausenden bedanken, die mich bis hier her getragen und erfreut hatten. Mit der Kappe winken würde ich. Ach, ich freute mich. Und zugleich wusste ich nicht, wie schön es dann wirklich wäre.

Ein Fahrradfahrer begleitete mich ein Stück. Es war ein etwa siebzigjähriger Mann auf einem Rennrad. Seine 47. Fietselfstedentocht habe er tags darauf. Den 50er peile er an. Das sei sein größter Traum. Ich wünschte ihm viel Gück und alles Gute. Er mir auch.

Zugbrücke

Meine Trinkflasche war noch drittelvoll. Ich trank beherzt daraus, trat etwas fester. Einen schönen, munteren, eleganten Stil wollte ich mir aufzwingen, um locker demnächst durch Bolsward zu tänzeln. Ich war nun am finalen Radweg. Ein Wegweiser sagte mir, dass es noch 6 Kilometer nach Bolsward wären. Meine lockere Fahrt wurde unterbrochen an einer Zugbrücke, wo ich an der roten Ampel anhalten musste. Die Pause war nur kurz, etwa eine Minute. In einer Rennsituation entscheiden die Holländischen Zugbrücken über Sieg oder Niederlage. Alles schon vorgekommen hier. Ich hingegen nahm alles sehr locker. Dann ging es ja auch schon weiter. Zweimal kurz Unsicherheiten, ob ich denn am richtigen Weg wäre. Den Weg zur Ziellinie zu finden war aber zunehmend einfacher, denn die Straße hatte nun eine höhere Publikumsdichte. Das heißt, man sah nun schon alle 100 bis 50 Meter Zuschauergrüppchen. So als könnten sie meine Gedanken lesen, zeigten sie mit den Armen in meine Fahrtrichtung und nannten die verbleibenden Kilometer. Nur noch zwei Kilometer, nur noch ein Kilometer. Eine scharfe Kurve nach rechts und nun war ich im Friesischen Örtchen des Wahnsinns.

Impressionen für die Ewigkeit

Selfie bei ca. 200km

Selfie bei ca. 200km

Die Menschendichte nahm zu, Musik war zu vernehmen. Es lag Unbeschreibliches in der Luft und bald schon war ich mitten drin im Hexenkessel des Guten. Meine Choreographie zog ich durch und riss mir die Kappe vom Kopf, wachelte der Menge dankend Richtung Ziel. Lange sah ich es nicht, denn es machten 200 bis 300 Meter gewesen sein, die ich durch die Menschenmenge rollte. Ähnlich wie beim Krampf zuvor musste ich auch jetzt Balance halten, eine Balance zwischen dem Stehenbleiben zwecks Auskosten des Augenblicks und rennmäßigen Siegerübermichselbst-Tretens zur Finish-Line. Diese Momente inmitten des nicht enden wollenden Applauses und der lachenden Gesichter war einer der raren Augenblicke des Lebens wo man bereits währenddessen weiß, dass sie für den Rest des Lebens einen ganz hohen Stellenwert haben werden. In diesen Sekunden und Minuten befindet man sich zeitgleich in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Gedanken an die Anfänge des Tretrollerfahrens, an die vielen Trainings, die tollen Momente, die vielen Momente, Gedanken an das Hier und Jetzt, die vielen Menschen, das schöne Wetter, das extrem gute Körpergefühl, die Unzerstörbarkeit im Augenblick und auch Bilder des greisen, klapprigen Guido, der sich an die Zieleinfahrt 2017 erinnert. Eines dieser Erlebnisse war auch 2013 als wir mit den Tretrollern im Zuge der 100. Tour de France den Alpe d‘ Huez erklommen und von Schlachtenbummlern angefeuert wurden. Gänsehaut noch heute, wenn ich daran denke. Nur war die Intensität in Frankreich viel geringer als jetzt in den Niederlanden. Die Stepelfstedentocht ist absolut top und unvergleichlich.

Im Ziel

meine Zieleinfahrt (c) Josef Kvita

meine Zieleinfahrt
(c) Josef Kvita

Bekannte Gesichter, Ziellinie. Josef filmte mich, Robert gratulierte mir. Genuss ganz alleine. Ich musste ihn nicht mit anderen Tretrollerfahrern teilen. Für kurz war ich der Mittelpunkt, zugleich aber war ich demütig und klein. Ich sah es nicht als große Leistung, was schlicht daran liegt, dass ich gut vorbereitet war und die Stepelfstedentocht nur ein sehr langer Spaziergang war in meiner Wahrnehmung, keine wirkliche Herausforderung und schon gar nicht eine Tortur. Die Uhr zeigte 16:50. Start war um Mitternacht, also waren wir 17 Stunden unterwegs.

Man deutete mir, ich solle die Treppen hinaufgehen in einen Container. Ja, richtig, gestempelt musste ja auch noch werden. Im Container wurde mein Eintreffen akribisch protokolliert. Meine Startnummer war 258, die nun in die Liste der Finisher eingetragen wurde. Den Stempel ins letzte freie Feld meiner Karte bekam ich auch noch, Händedruck der gewissenhaften Protokollführerin. Dann stand auch schon der Platzsprecher neben mir mit dem Mikrofon und interviewte mich auf Englisch. Mah, war mir das peinlich. Meine eigene Stimme hörte ich als Echo über den ganzen Hauptplatz. Keine Ahnung, welchen Stiefel ich daherredete. Eine große Ehre sei es für den Veranstalter, sogar jemand aus Österreich hier zu haben und wie es denn für mich sei, aus dem Land der Berge kommend, jetzt durch das Flache zu treten, ob ich denn überhaupt in Wien entsprechende Trainingsmöglichkeiten hätte. Ich antwortete gar nicht auf die Frage und erzählte nur, wie sehr mich der Wind hier überraschte, da es das bei uns in dieser Form nicht gäbe.

Guido, Mario, Josef (c) Josef Kvita

Guido, Mario, Josef
(c) Josef Kvita

Das Interviewen war mir echt unangenehm und einen Fuß hatte ich schon zum Flüchten bereit. Da winkte mich die Protokollführerin zurück. Eine kleine Trophäe gab es ja auch noch für mich. Sie überreichte mir eine kleine Statuette aus Plexiglas mit dem witzigen Logo der Bolswarder Step Vereniging und der Aufschrift „240 km 4. juni 2017“. Happy konnte ich nun flüchten. Mario Reijne, Großmeister des Tretrollersports, wollte unbedingt ein Foto mit mir und Josef haben. Das bekam er gerne. Sehr gerne! Das Foto mit Mario hat für mich einen ganz besonderen Wert, bin ich doch schon seit Beginn meiner Aktivitäten sein ganz großer Fan und durfte ihn jetzt auch als lieben Tretrollerfreund erleben. Erst jetzt gratulierten Josef und ich einander. Antonin war gar nicht im Zielraum. Er saß mit Conrad etwas abseits. Ich ging hin zu den beiden. Schon irgendwie komisch, dass sie so abseits saßen. Ich nahm es nicht persönlich, denn es war ja nicht gegen mich gerichtet. Happy war ich, rundum happy.

Nach mir kam Matteo ins Ziel. Wir fielen uns in die Arme. Er erlebte es wohl ähnlich schön wie ich, denn er redete auch nur von den Menschen und von der Stimmung und wie schön alles war, wie unvergleichlich schön. Gemeinsam gingen wir nun alle zum Auto, denn Matteo hatte seine Sachen bei uns verstaut. Neben dem Supermarkt, wo unser Auto parkte, klang dann alles aus. Matteo und ich tranken zwei kleine Biere. Conrad blieb bei uns und trank Cola, während alle anderen mit dem Auto zum Campingplatz fuhren. Welch unvergleichlich schöner Tag. Nach zwei Nächten ganz ohne Schlaf konnte ich jetzt endlich mützen. Den Tag danach verbrachten wir im sonnig-schönen Amsterdam und fuhren danach zurück nach Brünn und Wien.

Ehre wem Ehre gebührt!

Die Karte mit allen Stempeln!

Die Karte mit allen Stempeln!

Die Stepelfstedentocht ist nicht als Rennen zu sehen und dennoch gibt es Schnellste, die löblichst erwähnt werden wollen. Seite an Seite trafen um 16:22 die beiden jungen Herren Mente de Boer und Jan Evert Giliam ein. Als dritter Mann kam Klaas Poepjes ins Ziel. Bei den Damen war Rosanne Reijne die Schnellste. Sie war um 16:30 im Ziel und war Zehnte in der Gesamtwertung. Zweite war Lonneke Zijlstra um 16:33, Dritte schließlich Herma Bakker um 16:43. Wirklich beeindruckend. Von uns Yedoo-Burschen war Josef zuerst im Ziel, danach kam Antonin und dann doch mit größerem Abstand ich.

Von den 228 Starterinnen und Startern kamen 220 ins Ziel. Das ist ja noch viel beeindruckender. Um 19:50 kam der 70-jährige Dominicus Jorna ins Ziel, der seine 20. Stepelfstedentocht fuhr. Und die beiden Super-Jubilare Mario Reijne und Peter Visser möchte ich gerne noch einmal erwähnen. Sie fuhren ihre 30. Stepelfsteden!

Durchatmen

Die zurückgelegte Route

Die zurückgelegte Route

Was wird bleiben? Wie geht es weiter? Für mich ist die Stepelfstedentocht das Mekka der Tretrollerfahrer. Einmal im Leben muss man dort gewesen sein. Es war so schön, dass ich mir vornehme, noch oft dabei zu sein. Beim nächstenmal weiß ich ja schon wie es abläuft. Dann spare ich Kraft und rollere ganz langsam und gemütlich von einer Stadt zur nächsten, um dann am Ende so richtig Gas zu geben, denn das macht ja auch Spaß. Lange Hose für die Nacht und wohl auch eine bessere Jacke, denn eigentlich sollte man immer mit Regen rechnen. Von Anfang an würde ich keinen Helm nehmen und meinen Roller würde ich auch lustig herrichten mit Blumenschmuck vielleicht und mit bunten Lichtern für die Nacht. Und unbedingt würde ich mit Österreichischer Verstärkung kommen. Aber was spekuliere ich da? 33. Stepelfstedentocht 2018: wir kommen!!!

Weiterführende Infos

Videos

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